Jeder, der aus meiner Gegend zwischen Schwerin und Wismar kommt, kann irgendeine Geschichte zu Till Lindemann erzählen oder hat über tausend Ecken eine Verbindung zu ihm. Und jeder versucht, in seinen Storys noch einen drauf zu setzen. Das ist so ein bisschen wie mit Marteria in Rostock. Ich persönlich kann behaupten, dass ich mal den Weihnachtsbaum von Till in einer Tannenbaumschonung namens „Rote Flöte“ geschlagen habe. Aber das ist eine andere Geschichte.
Meine Eltern, insbesondere mein Papa, waren zu Teenagerzeiten gut mit ihm befreundet. „Herr Rammsteins“ Vater wiederum, Werner Lindemann – seines Zeichens bedeutsamer DDR-Schriftsteller und Namenspatron meiner einstigen Schule –, hatte des Öfteren mit meinem Opa zu tun. Meine Oma hat einen korbgeflochtenen Teppichklopfer von Lindemann Junior, weil er dieses Handwerk damals ausübte. Und einer meiner besten Freunde hat seinen Bootsschuppen direkt neben dem von Till. Und der Vater eines weiteren Kumpels hat als Jugendlicher angeblich mal von ihm „in die Schnauze“ bekommen. Und irgendeine Mutter eines Freundes war in den 80ern mal mit Till zusammen, während ein Vater eines weiteren Kumpels zu DDR-Zeiten wohl mal Ersatzteile für eine Simson mit dem späteren Weltstar klaute. Ob all das stimmt? Wer weiß das schon.
Till kehrte auch öfter in unsere zugequarzte Dorfkneipe „Tante Lotti“ ein, wo stilecht ein gewaltiger Hirschkopf über einem massiven Ledersofa hing, dort wo die ganz Harten saßen, um das mal zweideutig auszudrücken. In dieser Kneipe trank er sein Bier und plauderte mit alten Freunden. Er schien dort alle immer zu beeindrucken – auch die kleine Kinderversion meines Ichs. Wahrscheinlich jedoch nur, weil ich wusste, wer er ist. Ansonsten wirkt er erstaunlich unspektakulär und unaufgeregt, optisch kaum von den anderen Dorfmenschen zu unterscheiden – abgesehen von seiner Statur, die auch damals schon der eines Grizzlies vom Yukon glich. Aber von diesen Exemplaren gibt es auf´m Dörp auch nicht zu wenig. Der einzige, der immer völlig unaufgeregt in seiner Gegenwart war, war „Mücke“, der Wirt von Tante Lotti. Der saß stets zwischen Kachelofen und Küchentür allein an einem kleinen Tisch, paffte Zigarre und las konsequent Zeitung.
Und heute? Heute ist Rammsteins und Till Lindemanns Strahlkraft ungebrochen. Die Nachricht, dass Rammstein im Ostseestadion auftritt, scheint allen den Verstand geraubt zu haben. Selbstverständlich saß auch ich gestern am Laptop, um ein Ticket zu ergattern – u.a. für meine Eltern, die bis heute nicht verstehen wollen, dass Till Lindemann mehrere Millionen auf dem Konto liegen haben wird. Das können sie sich einfach nicht vorstellen. Sie waren noch nie auf einem Konzert der Band, können Till in seiner Rolle auf der Bühne auch schwer mit dem Till in Verbindung bringen, den sie von früher kennen – einen nachdenklichen, wortkargen Schmalhans.
Jetzt, da er mal in der Heimat spielen wird, wollen sie sich die Chance unter keinen Umständen entgehen lassen – ebenso wenig wie ich und alle anderen im Vorfeld beschriebenen Leute. Gefühlt jeder Zweite aus meinem Umfeld wollte Tickets. Punkt 10 Uhr war ich da und ab Punkt 10 Uhr saß ich über eine Stunde in der Warteschlange fest. Nebenbei tickerte ich mit Kumpels darüber, wie es bei ihnen aussähe. Schlecht. Warteschleife und Bilderrätsel. Einer von meinen Freunden dachte dummerweise, das Rätsel wäre nur zur Zeitüberbrückung da und löste es deshalb nicht, wodurch er seine Chance auf ein Ticket verwirkte.
Das Gewarte erinnerte mich irgendwie ans Angeln. Schweigend starrt man auf die Pose bis sie zappelt. Bei mir zappelte noch nie eine Pose, auch nicht bei dem Versuch, eine Rammstein-Karte zu erwerben. Nach dem vierzehnten Aktualisieren der Prüfzeit gab es dann die Gewissheit: ausverkauft. Das war´s. Aus und vorbei. All das Warten umsonst. Alles Zeitverschwendung. Dieser Moment erinnerte mich wieder daran, warum ich Angeln so wenig ausstehen kann.
Niemand, der mir bekannten Leute, konnte ein Ticket ergattern. Da hilft es auch nicht, wenn man mal Till Lindemanns Tannenbaum gefällt hat oder Sohn eines Vaters ist, der von ihm „in die Schnauze“ bekommen oder mit ihm Ersatzteile geklaut hat. Nützt alles nichts. Ärgerlich. Bitter. Aber da kann man nichts machen. Und so haben meine Freunde und ich zwar ein paar coole Storys auf Lager, doch wir werden niemals davon berichten können, wie es damals am 16.06.2019 im Ostseestadion war, als Rammstein Rostock rockte.