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Ertrinken ist eine Option: das grausame Fazit eines Rostocker NGO-Seenotretters

Vor etwas über einem Jahr interviewten wir den Rostocker Johann Pätzold (31), der als NGO-Mitglied lange Zeit sein Leben für die Seenotrettung im Mittelmeer aufs Spiel setzte. Welch bittere Tragödien und Grausamkeiten er erlebt hat, wird sich kaum einer von uns vorstellen können. Nur aus der Distanz hören wir in den Nachrichten von den unzähligen ertrunkenen Flüchtenden, die den Weg über das Mittelmeer gewagt haben, um ein besseres, lebenswerteres Leben zu suchen. Doch Tausende fanden auf diesem Weg nichts als die geballte Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Leben. Ein Jahr später befragten wir Pätzold erneut. 

Wenn das Paradies zur Hölle wird. Hier zu sehen: Eine von vielen Leichen, die mit uns im Mittelmeer schwimmt, während wir unseren Urlaub genießen. Schluckt besser kein Wasser… – Foto: instagram @seawatchcrew

Seit der 31-Jährige 2016 seinen letzten Einsatz auf dem Mittelmeer hatte, fühlt er sich sehr ausgebrannt und hat mit posttraumatischem Stress zu kämpfen. Hört er im Alltag Kinderschreie, löst das in ihm regelrechte Panikattacken aus. All die furchtbaren Bilder von ertrinkenden, sterbenden Menschen haben seine Spuren bei ihm hinterlassen. Pätzold merkt, dass diese Zeit auf dem Mittelmeer ihn hat abstumpfen lassen. Aus diesen Gründen musste der Rostocker die Reißleine ziehen. Tendenziell möchte er vorerst nicht mehr auf ein Seenotretter-Schiff aufsteigen – es sei denn, es ist zwingend notwendig. Er würde es immer wieder tun, aber solange ausreichend NGOs vorhanden sind, die diesen harten Job ausüben, sei er nicht gezwungen, selbst vor Ort zu sein.
Ein Sprung ins Paradies? Noch lange nicht. – Foto: instagram @seawatchcrew

Das bedeutet jedoch nicht, dass er sich von der Seenotrettung zurückgezogen hat. Pätzold hilft von zu Hause aus und ist in der Öffentlichkeitsarbeit der Seenotrettung aktiv. Das Wort sei nun sein Werkzeug, mit dem er die erlebten Bilder transportiert. Er kann die verheerende Situation und den Notstand auf dem Mittelmeer der Öffentlichkeit plastischer und besser vermitteln als andere, die nicht aus Erfahrung sprechen können. Auf diesem Wege möchte er die Menschen für die Tragödien sensibilisieren und jenen, die Scheuklappen tragen, diese vom Kopf reißen. Bei Menschenleben dürfe es keine Kompromisse geben, egal welcher Herkunft. Johann Pätzold gibt zu bedenken, dass wir allmählich an einem Punkt angekommen sind, an dem wir uns alle fragen müssen, wie lange man noch wegsehen kann, ohne sich irgendwann selbst schuldig zu machen.
Foto: instagram @seawatchcrew

Sein Wirken macht ihm nicht nur Freunde. Regelmäßig muss er sich mit schlimmen Anfeindungen herumschlagen. Er wurde u.a. als „Terroristen-Schlepper“ beschimpft und erhielt Morddrohungen. Allgemein musste Pätzold besonders in den sozialen Medien einiges über sich ergehen lassen. Die Identitären dichteten ihm gar eine Geisteskrankheit an, was natürlich erstunken und erlogen ist. Auch der AfD-Politiker Björn Höcke fühlte sich berufen, sich auf geschmacklose Art und Weise zum Thema Seenotrettung zu äußern und machte sich über den Rostocker lustig. Wenn sich Politiker zu einem – um es vorsichtig zu formulieren – derartig entwürdigenden Verhalten hinreißen lassen, dass Italiens Innenminister Salvini die Flüchtenden abfällig als „Menschenfleisch“ bezeichnet und ein Markus Söder sie als „Asyl-Touristen“ diffamiert, spricht das Bände darüber, was in Europa derzeit schief läuft. Diese Herabwürdigung der Arbeit der NGOs ist eine anmaßende Respektlosigkeit sondergleichen und eine schallende Ohrfeige für all die Freiwilligen, die ihr Leben riskieren, um andere zu retten. Es ist ein Armutszeugnis für Europa.
Kommentar von Sea Watch: Für alle, die immer davon reden, irgendein imaginäres Boot sei voll. Wir haben ein tatsächliches Boot und das ist wirklich voll! „Wir kommen an unsere Grenzen“ – Rückblick zu gestrigen Rettungseinsätzen und warum NGOs kein „Shuttle-Service“ sind: https://sea-watch.org/ausnahmesituation-1400-menschen-gerettet-ngos-sind-kein-shuttle-service/amp/ – Foto: instagram @seawatchcrew

Es sei schon bedenklich, dass eine Kleinpartei wie die CSU, die lediglich in einem Bundesland beheimatet ist, so viel Macht besitzt, dass sie die Deutschen Seenotretter auf dem Mittelmeer im Moment blockieren. Zwar sind sie dafür nicht allein verantwortlich, dennoch trügen sie eine Hauptschuld, so Pätzold. Ebenso könne sich  Salvini  durch seine Blockade unzählige Tote auf seine Rechnung schreiben.
Die zivile Unterstützung, so der Rostocker, nähme aktuell trotzdem wieder stark zu. Ein gutes Zeichen und Hoffnungsschimmer der Menschlichkeit. Auch wenn die Bevölkerung nach wie vor zu diesem Thema gespalten ist, würden, Pätzolds Aussage zufolge, 75 % der Europäer die Seenotrettung befürworten. Die Menschen solidarisieren sich und drücken dies in etwa auf den europaweiten Seebrücken-Demos aus, zu denen wöchentlich Tausende strömen. Auch die Spendenbereitschaft ist noch da, von der die verschiedenen Organisationen am Leben gehalten werden.
Wenn Menschen um ihr Leben schwimmen. – Foto: instagram @seawatchcrew

Die ganze Misere liegt nicht nur an Italien oder Horst Seehofer. Die gesamt EU versagt bei diesem Thema und trägt mit ihrer Haltung stetig dazu bei, den Rechtsstaat abzutragen. So würden Schiffe ohne Rechtsgrundlage beschlagnahmt und die Crews verhaftet werden. Europa schaffe es einfach nicht, vernünftig zusammenzuarbeiten und die flüchtenden Menschen zu verteilen. Was Pätzold stört, ist, dass die NGOs zu einem Sündenbock für verfehlte Politik gemacht werden – besonders von der Politik selbst.
Nach Gesprächen mit dem deutschen Innenministerium kann Pätzold zumindest feststellen, dass die Bundesregierung gute Konzepte in den Schubladen hat, mit denen man die Fluchtroute über das Mittelmeer human schließen könne. Doch aktuell passiert etwas Gegenteiliges: Anstatt zu intervenieren, lässt man eine kaum zu ertragende Zahl Flüchtender jämmerlich ertrinken. Nur bekommen wir in Europa davon nicht mehr viel mit. So verbietet man nicht nur die Seenotrettung, auch die Aufklärungsflugzeuge dürfen nicht mehr Richtung Mittelmeer starten. 
Nicht alle haben das Glück, gerettet zu werden. – Foto: instagram @seawatchcrew

Wie dramatisch die Situation ist, zeigt eine Szene am Tag des Interviews. Das Freiwilligen-Projekt AlarmPhone erhielt einen Notruf, aber niemand war da, um die Menschen zu retten. Es ist auch niemand sonst hingefahren. Frachtschiffe oder andere zivile Schiffe ließen die Menschen angeblich ebenfalls in Seenot zurück, weil sie sich nicht mehr trauten, die Menschen an Bord zu nehmen – zu groß wären die Konsequenzen mittlerweile. Pätzold zufolge seien noch immer genauso viele Menschen auf dem Mittelmeer unterwegs, nur werden sie jetzt nicht mehr gerettet, sondern täglich dem Tod überlassen. Der 31-jährige Rostocker weist darauf hin, dass Europa nur durch die NGOs darüber aufgeklärt wurde, was da unten los ist. Ohne ihren Einsatz sterben die Menschen im Wasser weiterhin wie die Fliegen – und den Seenotrettern sind die Hände gebunden.
Kommentar von Seawatch: „Unser Ziel war es, Leben zu retten und dass die Staaten der Europäischen Union irgendwann unsere Aufgabe übernehmen würden. Das Jahr 2017 hat uns von diesem Ziel weiter entfernt, als wir es damals gewesen sind.“ – Foto: instagram @seawatchcrew

Auf die abschließende Frage, wie wir helfen können, ohne unser Leben zu riskieren oder uns nach aktuellem Ermessen traurigerweise strafbar zu machen, antwortet Pätzold mit einer Gegenfrage: „Ist es korrekt, tausende Menschen – Kinder, Alte, Frauen, Männer – sterben zu lassen, damit sich andere nicht mehr die Überfahrt trauen?“ Wer diese Frage richtig beantworten kann, sei auch in der Lage, die richtigen Politiker zu wählen, meint er – und es gäbe nur eine richtige Antwort. Wer direkt aktiv werden will, der kann z.B. bei den Organisationen in den Büros Unterstützung leisten. Selbst durchs Feiern können wir helfen. Vielleicht besuchen wir einfach mal eine Soli-Party, von denen in Rostock immer wieder mal welche stattfinden. Mittlerweile kann auch jeder über das Netzwerk Seebrücke aktiv werden und spontan Demonstrationen veranstalten (die nächste findet in Rostock am 22.9. statt). Dabei wird man super vom Seebrücken-Team unterstützt.
Wie bereits erwähnt, sind die Organisationen auch von Spenden abhängig. Klar, dass niemand von uns blind irgendetwas spenden will. Darum setzt euch doch mit den verschiedenen NGO auseinander, erfahrt wofür sie stehen, was sie machen und welche Philosophie sie verfolgen. Klickt einfach auf die folgenden Links: sea-eye.org, sea-watch.org, mission-lifeline.de, proactivaopenarms.org oder aerzte-ohne-grenzen.de. Ob ihr nun spendet oder nicht, es ist vor allem wichtig, nicht wegzuschauen, sich zu informieren, um dann zivilcouragiert und fundiert die Klappe aufzumachen. Wenn täglich ein paar mehr Menschen den Ernst der Lage begreifen würden, wäre das bereits eine große Hilfe.
Ihr seht die wahrste Lebensfreude. Glücksgefühle nach der Rettung. – Foto: instagram @seawatchcrew

Wir hoffen, dass wir in einem Jahr bei unserem nächsten Gespräch nicht mehr von unzähligen ertrunkenen Menschen reden, sondern darüber, dass Europa die Augen aufgemacht hat, zur Vernunft gekommen ist und das Mittelmeer nicht länger ein Massengrab sein wird. In unserem letzten Interview sagte Pätzold, dass das Ertrinken keine Option ist – dafür steht der 31-Jährige weiterhin mit jeder Faser seines Körpers. Scheinbar sehen viele europäische Politiker und Mitbürger das anders: Ertrinken ist eine Option. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Das muss sich ändern und dafür können auch wir etwas tun. Um Charlie Chaplin abschließend in einem übertragenen Sinne zu zitieren: „Ihr als Volk habt allein die Macht! Die Macht, Kanonen zu fabrizieren, aber auch die Macht, Glück zu spenden.“ – Entscheidet euch für das Richtige!

 

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